Die 66. Berlinale findet vom 11. bis 21. Februar 2016 statt – heute wurde das Programm veröffentlicht. Beim Durchsehen fällt auf, dass die Themen Krieg, Terror, Flucht und Vertreibung weitaus stärker vertreten sind als in den vergangenen Jahren, zumindest in der künstlerischen Auseinandersetzung, beispielsweise in den Sektionen Forum und Forum Expanded. Dies verwundert angesichts der veränderten weltpolitischen Situation wenig. Die Themenvielfalt ist groß:
Gleich sieben Wettbewerbsbeiträge setzen sich auf unterschiedliche Weise mit Krieg auseinander. Der portugiesische Wettbewerbsbeitrag Cartas da guerra (Letters from War; Portugal 2016, 105′) ist die poetische Umsetzung der Briefe des einstigen Militärarztes und heutigen Schriftstellers António Lobo Antunes, der 1971 in den Portugiesischen Kolonialkrieg nach Angola geschickt wurde.
Jeder stirbt für sich allein, der letzte Roman von Hans Fallada, wurde erneut verfilmt (Alone in Berlin, Deutschland/Frankreich/Großbritannien 2016, 103′), diesmal mit Emma Thompson und Brendan Gleeson: Die Geschichte basiert auf dem Ehepaar Otto und Elise Hampel, die sich während des Zweiten Weltkriegs vom Nationalsozialismus abwenden, in den Widerstand gehen und schließlich hingerichtet wurden.
In Soy Nero (Deutschland/Frankreich/Mexiko 2016, 120′) sehnt sich der junge Mexikaner Nero nach dem durch das Erlangen der US-Staatsbürgerschaft erhofften Wohlstand. Für eine Green Card meldet er sich zum US-Militär und kämpft im Mittleren Osten.
Die Dokumentation Zero Days (USA 2016, 116′) wendet sich dem Cyberwar und hierbei insbesondere dem Stuxnet-Computerwurm zu. Jenes mit großem Aufwand entwickelte Schadprogramm greift das Anlagensteuerungssystem Siemens Simatic S7 an. Man darf gespannt sein, inwieweit der Film tatsächlich Licht ins Dunkel dieser weiterhin nebulösen Geschichte bringt oder nur Behauptungen aufstellt.
Ebenfalls im Wettbewerb wird Smrt u Sarajevu (Tod in Sarajevo; Frankreich/Bosnien-Herzegowina 2016, 85′) gezeigt, der neue Film von Danis Tanović, der sich mit seiner Heimat und dem Krieg bereits mehrfach überzeugend auseinandergesetzt hat, z.B. in No Man’s Land (2001), 11’09″01 – September 11 (2002) oder Triage (2009). Handlungsort ist das „Hotel Europa“, in dem ein diplomatischer Empfang zur Erinnerung an Gavrilo Princips Attentat vom 28. Juni 1914 stattfinden soll, einem der Grundsteine für den Ersten Weltkrieg. Hierbei wird natürlich auch die weiterhin aktuelle Frage behandelt, ob Princip nun ein Terrorist oder ein Held war, während die Hotelangestellten ihre ganz eigenen Probleme mit dem modernen Leben haben.
Nicht direkt mit Krieg, aber mit einer angespannten politischen Situation setzt sich der iranische Beitrag Ejhdeha Vared Mishavad! (A Dragon Arrives!, Iran 2016, 107′). Kurz nachdem der Premiermininster Hassan Ali Mansur im Januar 1965 von einem Mitglied der islamistischen Fedajin-e Islam ermordet wurde, muss ein Kommissar einen Fall lösen, in dem auch ein politischer Gefangener eine Rolle spielt; der Fall ist auch in der Gegenwart keineswegs abgeschlossen. In der Tat gilt der Gründer der Terrororganisation, der Student Navvab Safavi (1924-1955), im heutigen Iran als Märtyrer.
Eine Herausforderung auch für die Zuschauer dürfte Hele Sa Hiwagang Hapis (A Lullaby to the Sorrowful Mystery, Philippinen/Singapur 2016, 485′) werden: In etwas mehr als acht Stunden (die Screenings werden von einer einstündigen Pause unterbrochen werden) setzt sich der Schwarz-Weiß-Film mit Andrés Bonifacio y de Castro (1863-1897) und dem philippinischen Unabhängigkeitskampf gegen die spanische Kolonialherrschaft am Ende des 19. Jahrhunderts auseinander.
S one strane (On the Other Side, Kroatien/Serbien 2016, 85′) thematisiert die Auswirkungen des Bosnienkrieges im heutigen Leben der Krankenschwester Vesna. Das eher experimentelle Filmessay Starve your Dog (Marokko 2015, 94′) setzt eine alternative Realität ein, um mit der Arabellion umzugehen: Hier hat der eigentlich 2007 gestorbene marokkanische Innenminister Driss Basri Hausarrest erhalten und enthüllt gegenüber einem Filmteam die dunklen Geheimnisse des Landes.
Mit Rachid Boucharebs La Route d’Istanbul (Road to Istanbul; Algerien/Frankreich/Belgien 2016, 97′) findet sich in der Untersektion „Panorama Special“ ein hochaktueller Film: Eine belgische Mutter stellt erschüttert fest, dass sich ihre Tochter nach Syrien aufgemacht hat, um sich dort dem IS anzuschließen; die Mutter folgt ihr, um sie zurückzuholen. Bouchareb hat seine Nähe zu solchen Sujets nicht zuletzt durch Tage des Ruhms (2006) und London River (2009) unter Beweis gestellt.
Ebenfalls in der gleichen Untersektion findet sich Junction 48 (Israel/Deutschland/USA 2016, 97′), dessen palästinensische Protagonisten Hip-Hop als Auflehnungsmethode gegen die israelische Gesellschaft, aber auch ihre eigene konservative Community sehen.
Filme zu drei unterschiedlichen Regionen und Konflikten sind in der Untersektion „Panorama Dokumente“ zu sehen: Mariupolis (Litauen/Deutschland/Frankreich/Ukraine 2016, 90′) liegt in der Ost-Ukraine; eine Theatergruppe probt ein Stück zum Tag des Sieges während sich die Kämpfe zwischen prorussischen Einheiten und den ukrainischen Streitkräften nähern. Der Ost-Komplex (Deutschland 2016, 90′) behandelt die Auseinandersetzung mit der DDR anhand des ehemaligen „Republikflüchtlings“ Mario Röllig. The Lovers and the Despot (Großbritannien 2016, 95′) ist die haarsträubende Geschichte des südkoreanischen Regisseurs Shin Sang-ok und seiner Frau, der Schauspielerin Choi Eun-hee, die vom filmbegeisterten nordkoreanischen Diktator Kim Jong-il entführt wurden, um die heimische Filmindustrie voranzubringen.
Die LGBTXYZ-Untersektion „Teddy 30“ zeigt mit Marble Ass (Jugoslawien 1995, 80′) eine Auseinandersetzung mit Krieg, Gewalt und Sexualität nach (und vor) den Jugoslawienkriegen, sowie mit Tras el cristal (In a Glass Cage, Spanien 1985, 112′) eine einst überaus kontroverse Mischung aus Nationalsozialismus, Sadismus, Homosexualität und Pädophilie. Nun wird der Film zum 30. Jubiläum des „Teddy-Awards“ gezeigt.
Die Sektion „Forum“ behandelt immer wieder spannende Themen abseits des filmischen Mainstreams. Tempestad (Mexiko 2016, 105′) dreht sich um einen Aspekt mexikanischer Realität: Pagadores (die Zahlenden) werden jene Menschen genannt, die für die Verbrechen anderer büßen müssen. Die Behören melden einen Erfolg gegen die allgegenwärtige Organisierte Kriminalität, die Bevölkerung wird beruhigt – und die Opfer finden sich in Gefängnissen, die dazu noch von den Kartellen kontrolliert werden.
Ta’ang (Hongkong/China/Frankreich 2016, 148′) behandelt hingegen den Bürgerkrieg in der Kokang-Region Myanmars: Menschen aus dem Volk der Ta’ang (auch De’ang oder Palaung genannt) fliehen über die Grenze nach China und versuchen irgendwie zu überleben. Auch Fei cui zhi cheng (City of Jade, Taiwan/Myanmar 2016, 99′) spielt in der Bürgerkriegsregion Myanmars, diesmal als Annäherung zwischen zwei ungleichen Brüdern.
Bein gderot (Between Fences, Israel/Frankreich 2016, 85′) betrachtet die Situation von Asylsuchenden aus Eritrea und dem Sudan in einem israelischen Internierungslager. Manazil bela abwab (Houses without Doors, Syrien/Libanon 2016, 90′) dokumentiert die Lebenssituation armenischer Syrer in Aleppos Midan-Viertel während des weiterhin andauernden Bürgerkriegs. Die Protagonisten des auf 8 mm (…) gedrehten Saint Terrorism (Japan 1980, 127′) sind Terroristen, die scheinbar grundlos töten, zuerst mit Pistolen, schließlich mit Gift – sofort drängen sich Parallelen zum Wirken von Ōmu Shinrikyō auf, deren Anschlag mit Sarin in der U-Bahn Tokyos am 20. März 1995 der Gruppe weltweite Bekanntheit bescherte und das seinerzeit verdrängte Phänomen Terrorismus wieder in die öffentliche Wahrnehmung holte.
Die dem künstlerischen Film zugewandte Sektion „Forum Expanded“ hat 2016 erstaunlich zahlreiche Perspektiven zu Krieg und Terror zu bieten. Höchst faszinierend und zugleich zutiefst verstörend ist Omer Fasts Continuity (Deutschland 2016, 85′) über einen zu seinen Eltern zum gemeinsamen Weihnachtsfest aus Afghanistan zurückgekehrten deutschen Soldaten; immer wieder ändert sich die Geschichte, deren Screening als Loop bereits 2012 auf der Documenta 13 in einer kürzeren Fassung zu begeistern wusste.
Kama Tohalleq al Teyour (As Birds Flying, Ägypten 2016, 7′) wendet sich der gegenwärtigen Situation in Äypten zu: 2013 wurde ein Storch als Spion festgenommen, da an seinem Bein ein elektronisches Gerät entdeckt wurde. Now: End of Season (Libanon/Syrien 2015, 20′) behandelt den Syrienkonflikt auf Basis eines fehlgeschlagenen Telefonats zwischen Ronald Reagan und Hafiz al-Assad, der mit wartenden Flüchtlingen in der Türkei kontrastiert wird.
We Demand (USA 2016, 10′) skizziert den Widerstand gegen den Vietnamkrieg an der Universität von Virginia. Transmission from the Liberated Zones (Portugal/Frankreich/Deutschland/Schweden 2015, 30′) wendet sich dem Unabhängigkeitskrieg in Guinea (1963-1974) zu. Hannibal in Rafah: A reconstruction of one bloody day in the 2014 Gaza War from user generated videos (60′) thematisiert den Versuch von Amnesty International und Forensic Architecture, mittels Bild-, Ton- und Videodokumenten die Ereignisse aufzuarbeiten, die nach dem 1. August 2014 während des Gazakrieges stattfanden. Bunker Drama (USA/Litauen 2015, 30′) verbindet einen ehemaligen sowjetischen Bunker in Litauen mit einer EU-Fantasie, in der arbeitslose Jugendliche durch militärischen Drill in die Gesellschaft integriert werden sollen.
Erinnerungskulturen bilden das Zentrum der Reihe „Visionary Archives“; der Eintritt zu den Veranstaltungen ist frei: Reclaiming History, Unveiling Memory (90′) mit dem nigerianischen Filmemacher Didi Cheeka betrifft eine Sammlung postkolonialer Filme aus Nigeria. Die Medienkünstlerin Clarissa Thieme und Nihad Kreševljaković, der Leiter des Sarajevoer Kriegstheaters, stellen mit Između Nas/Between Us (60′) wiederum das Videoarchiv Hamdija Kreševljaković vor, das während der Belagerung Sarajevos (1992-1996) angelegt wurde und Zeugenberichte der eingeschlossenen Bewohner enthält.
Der Titel der diesjährigen begleitenden Kunstausstellung lautet Traversing the Phantasm und handelt von der Durchquerung realer und imaginärer Territorien. Hier ist unter anderem Natascha Sadr Haghighians Arbeit „Pssst Leopard 2A7+“ zu sehen oder, besser gesagt, zu hören: Denn die Soundinstallation über den deutschen Kampfpanzer und seinem Export nach Katar ist auf einer aus (zur Zeit recht modischen) LEGO-Steinen erbauten Grundfläche des Panzers errichtet und kommt ohne weitere Bilder aus.
Generation:
Interessantes bietet auch immer die Sektion „Generation“ und damit Filme für Kinder (Generation K+) und Jugendliche (Generation 14+). Rauf (Türkei 2016, 94′) handelt vordergründig von der ersten Liebe eines elfjährigen Jungen, doch der Krieg wirft ebenso seine Schatten. Der kurdische Life on the Border (Irak 2015, 73′) zeigt das Leben von Kindern in den Flüchtlingslagern von Kobanê und Şingal. Der Held in Ma révolution (My Revolution, Frankreich 2015, 80′) ist der Jugendliche Marwann, der zum Symbol der Arabellion wird, sich aber ebenso für seine Mitschülerin Sygrid interessiert und sich seiner Identität klar werden muss.
Hans Steinbichler wiederum verfilmte Das Tagebuch der Anne Frank (Deutschland 2016, 130′) mit Martina Gedeck und Ulrich Noethen und damit ein wichtiges Zeugnis der nationalsozialistischen Terrorherrschaft.
In der „Perspektive Deutsches Kino“ findet sich Meteorstraße (Deutschland 2016, 84′) über den in Berlin lebenden 18jährigen Palästinenser Mohammed, der vor dem Krieg im Libanon geflohen ist. Als Sektionsgast wird der Gewinner des First Steps Awards 2015 gezeigt, Levin Peters Dokumentarfilm Hinter dem Schneesturm (Deutschland 2016, 92′): Der Vater des Filmemachers war während des Zweiten Weltkriegs Soldat in der Ukraine; der Sohn versucht sich seinem nun alten Vater und dessen Erinnerungen anzunähern und verknüpft dies mit Eindrücken aus der heutigen Ukraine.
National Bird (USA 2016, 92′) blickt als Dokumentation in die US-Kriegführung mittels UCAVs („Drohnen“) anhand dreier ehemaliger Analysten der US Air Force, die sich nun sehr kritisch über die Einsätze äußern. Michael Moores Dokumentation Where to Invade Next (USA 2015, 119′) ist bisweilen geradezu humorvoll geworden: Diesmal wendet er sich den gelobten Ländern Europas zu und ihren Vorteilen gegenüber dem US-System, die von längerem Urlaub und einer besseren Ausbildung bis zu einer selbstkritischen Erinnerungskultur reichen.
The Music of Strangers (USA 2015, 95′) in der Untersektion „Berlinale Special Gala“ behandelt das Silk Road Project des Cellisten Yo-Yo Ma. Rund 60 Musiker aus mehr als 20 Nationen spielen seit dem Jahr 2000 miteinander. In Einzelportraits werden einige Musiker vorgestellt, wie der syrische Klarinettist Kinan Azmeh oder der iranische Kamantschespieler Kayhan Kalhor, deren Leben von Krieg und Terror beeinflusst wurde.
TV-Serien werden auf der Berlinale seit einigen Jahren nicht mehr ganz ausgeblendet. 2016 wird unter anderem kurz vor dem Screening auf BBC ein Teil der Miniserie The Night Manager (Großbritannien/Spanien/USA 2016) gezeigt. Tom Hiddleston spielt in der Verfilmung der gleichnamigen Romanvorlage von John le Carré aus dem Jahr 1993 einen ehemaligen Soldaten, der gegen einen mächtigen Waffenhändler vorgeht.
Die Retrospektive wendet sich dieses Jahr deutsch-deutschen Filmen vor 50 Jahren zu. Preis der Freiheit (Bundesrepublik Deutschland 1965/1966, 83′) von Egon Monk spielt an der deutsch-deutschen Grenze und verfolgt einen multiperspektivischen Ansatz bei der Darstellung west- und ostdeutscher Grenzpolizisten.
Die Sektion „Classics“ zeigt gleich zwei spannende Beiträge: Die Russen kommen (DDR 1968/1987, 92′) von Heiner Carow handelt vom 16jährigen Günter, der das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht als Befreiung, sondern als Katastrophe und Zusammenbruch erlebt. Jener Film über den Nationalsozialismus ohne einen antifaschistischen Helden wurde in der DDR vor der Fertigstellung verboten, galt lange als verschollen und konnte erst 1987 fertiggestellt werden. Auf der Berlinale wird der Film als Weltpremiere der digital restaurierten Fassung in 2K DCP gezeigt.
Ebenfalls ihre Weltpremiere wird die restaurierte 35mm-Kinofassung von The Road Back (USA 1937, 100′) erleben, James Whales Verfilmung von Erich Maria Remarques Roman „Der Weg zurück“ aus dem Jahr 1931. Das Werk führt „Im Westen nichts Neues“ weiter, auch in seinem desillusionierten Ansatz: Vier Infanteristen des Ersten Weltkriegs erleben eine Nachkriegsgesellschaft, die die Veteranen ablehnt und sie mit ihren Traumata allein lässt. Nach Protesten des bereits nationalsozialistischen Deutschlands wurden für die deutsche Fassung diverse Szenen geschnitten; andere wurden ohne Beteiligung des Regisseurs hinzugefügt.
Die Sektion „Kulinarisches Kino“ trägt zwar den Untertitel „Make Food, Not War“, doch da sich dieser nicht in dem hierzu ausgewählten Filmprogramm wiederfindet, stellt sich das Gefühl leichter Beliebigkeit ein: „Wäre es nicht schön, wenn man die Bundeswehr nur mit Schneebesen, Eiern und Mehl ausrüsten
müsste, um Frieden zu schaffen?“ heißt es dazu im Programmheft. Darauf einen Eierkuchen!
Die künstlerischen Ansätze sind somit so unterschiedlich wie die inhaltlichen Schwerpunkte. Die Preise liegen dieses Jahr zwischen 4,- € (Generation) und 14,- € (Wettbewerb). Der nach Tagen und Veranstaltungsorten gestaffelte Ticketvorverkauf beginnt ab dem 8. Februar. Weitere Informationen finden sich wie immer im Berlinale Journal. So bleibt an dieser Stelle nur, allen eine interessante Berlinale 2016 zu wünschen, sowie viel Erfolg beim üblichen (frühzeitigen!) Anstehen für die Karten.