Auch in diesem Jahr finden sich im Berlinale-Programm (neben dem erneut spannenden Wettbewerb) diverse Filme mit Bezügen zu historischen und aktuellen Kriegen. Auch die Retrospektive zeigt zahlreiche Dystopien wie den sowjetischen „Pisma mjortwowo tscheloweka“ (Briefe eines toten Mannes) aus dem Jahr 1986.
Wettbewerb
So behandelt der Eröffnungsfilm „Django“ einen zentralen Teil im Leben der Swing-Legende Jean „Django“ Reinhardt zwischen Flucht, der Vernichtung von Sinti-Familienangehörigen und Freunden im Porajmos – dem nationalsozialistischen Völkermord – und dem möglichen Überleben, indem man sich als beliebter Musiker in den Dienst der Nazis begibt. Der brasilianisch-portugiesische Wettbewerbsbeitrag „Joaquim“ begibt sich in das Brasilien des 18. Jahrhunderts: In der teils am Leben des späteren Nationalhelden „Tiradentes“ Joaquim José da Silva Xavier angelegten Geschichte wird ein Soldat mit den Ungerechtigkeiten des portugiesischen Kolonialsystems konfrontiert und muss sich entscheiden, wem seine Loyalität gehört. Außer Konkurrenz läuft hingegen „Viceroy’s House“: Der Film handelt vom Umgang mit Kolonialismus am Ende der britischen Herrschaft in Indien.
Panorama
Der ungarische „1945“ behandelt die unmittelbare Nachkriegszeit, und mit ihr die Verstrickungen der Bewohner eines Dorfes in den Holocaust. „Insyriated“ handelt vom Überleben im Syrienkrieg und sogleich von übertragbaren moralischen Entscheidungen: Kann man ein Familienmitglied opfern, um die anderen zu retten? „The King’s Choice“ spielt im Jahr 1940: Die deutsche Wehrmacht marschiert in das neutrale Norwegen ein, doch König Haakon VII. erweist sich als moralische Stütze für die Bevölkerung.
Der Dokumentarfilm „Bones of Contention“ wendet sich der Erinnerung an die spanische Franco-Diktatur zu: In einem der zahllosen Massengräber liegt auch der in den ersten Tagen des Bürgerkrieges erschossene Schriftsteller Federico García Lorca. „Erase and Forget“ hat ebenfalls eine dokumentarische Form. Mit dem ehemaligen Oberstleutnant James Gordon „Bo“ Gritz wird eine überaus skurrile und kontroverse Person behandelt: Soldat der US Special Forces im Vietnamkrieg, US-Präsidentschaftskandidat der rechtsextremen Populist Party 1992, vielfältiger Aktivist und Verschwörungstheoretiker, der dem christlichen Fundamentalismus zugewandt ist. In der Dokumentation „Istiyad Ashbah“ (Ghost Hunting) wiederum spielen ehemalige palästinensische Insassen des Moskobiya-Verhörzentrums in Jerusalem ihre Erfahrungen nach. In „Tahqiq fel djenna“ (Investigating Paradise) recherchiert eine Journalistin zu den Vorstellungen des Paradieses, insbesondere derjenigen salafistischer Prediger: Das Paradies wird zum beworbenen Produkt, in dem irdische Verbote aufgehoben werden.
Forum / Forum Expanded
Die beiden südkoreanischen Filme „Choehuui jeung-in“ (The Last Witness) aus dem Jahr 1980 und „Obaltan“ (Aimless Bullet) aus dem Jahr 1961 beziehen sich in ihrer Gesellschaftskritik nicht zuletzt auf den Koreakrieg und seine Auswirkungen. „Maman Colonelle“ beschreibt die Arbeit von Honorine Munyole und ihrer Polizeieinheit, die zum Schutz vergewaltigter Frauen und misshandelter Kinder in der kriegsgeplagten DR Kongo operiert. In „Newton“ wird der gleichnamige Bürokrat in eine indische Region zur Durchführung der Wahlen versetzt – und gerät in der schwarzen Tragikomödie in einen Bürgerkrieg und an Einwohner, die sich dem Spektakel der vorgeblichen Demokratie lieber entziehen. Der Protagonist von „Motza el hayam“ (Low Tide) hat nicht nur das Problem, dass er seiner Einberufung zur Reserveübung nicht nachkam – immer wieder werden er und seine bisweilen skurrilen privaten Katastrophen mit Gewalt und Kriegsnähe in der israelischen Gesellschaft kontrastiert. „Spell Reel“ begann als Film- und späteres Digitalisierungsprojekt zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges in Guinea-Bissau (1963-1973) und handelt dabei auch immer wieder von Erinnerungen.
Der Forum Expanded-Vertreter „Tashlikh“ (Cast Off) der israelischen Multimediakünstlerin Yael Bartana bezieht sich auf den gleichnamigen jüdischen Brauch – bei dem Sünden im Meer versenkt werden -, um sich mit privaten Gegenständen auseinanderzusetzen, die sich auf Krieg und Überleben beziehen.
Generation 14+
Im Dokumentarfilm „Shkola nomer 3“ (School Number 3) erzählen 13 Jugendliche einer Schule im Donbass, die während des Ukraine-Konflikts zerstört und wiedererrichtet wurde, von ihrem Leben. Gleichfalls ein Dokumentarfilm zeigt „Soldado“ (Soldier), wie ein junger Rekrut in Argentinien zu einem Soldaten wird, begleitet von Zweifeln und Widersprüchen. Im israelischen Kurzfilm „Sheva Dakot“ (Seven Minutes) wollen zwei junge Soldaten ihren eigentlich gestrichenen Ausgang doch noch antreten.
Shorts
Die israelische NGO B’Tselem kehrt mit ihrem Dokumentarkurzfilm „The Boy from H2“ auf die Berlinale zurück: Hebron ist in zwei Sektoren eingeteilt, H1 und H2. Der Film begleitet einen palästinensischen Jungen aus dem Sektor H2. Seit 2012 wird in Haifa jährlich die „Miss Holocaust Survivor“ gewählt. Der Dokumentarkurzfilm „Miss Holocaust“ erzählt von dieser kontrovers diskutierten Variante, die Erinnerung wach zu halten.
Special
Das Dokumentarexperiment „the bomb“ wendet sich der Faszination zu, die von der Atombombe ausging und ausgeht. Die Biographie „Masaryk“ behandelt jene Zeit im Winter 1939, als der gleichnamige Protagonist in ein Sanatorium eingeliefert wird: Der spätere Außenminister der tschechoslowakischen Exilregierung glaubt, zu wenig für sein Land und den Frieden getan zu haben. Eine Dystopie zeigt hingegen die BBC-Serie „SS-GB“, von der auf der Berlinale die ersten beiden Episoden gezeigt werden: Ähnlich dem US-Pendant „The Man in the High Castle“ (die wiederum lose auf dem gleichnamigen Roman von Philip K. Dick basiert) haben die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen; hier wurde entsprechend Großbritannien dem Großdeutschen Reich einverleibt – und ein Detektiv gerät bei einer Mordermittlung zwischen die Fronten aus SS, Scotland Yard und dem Widerstand gegen die Besatzung.
Retrospektive / Hommage / Classics
In der Retrospektive finden sich dieses Jahr unterschiedliche Dystopien. Der sowjetische „Pisma mjortwowo tscheloweka“ (Briefe eines toten Mannes, UdSSR 1986) zeigt auf eindrückliche Weise die armseligen Überbleibsel einer menschlichen Gesellschaft nach einem Nuklearkrieg. „On the Beach“ (Das letzte Ufer, USA 1959) setzt am Beginn eines solchen Krieges ein: hochkarätig besetzt unterstreicht er die zunehmende Hoffnungslosigkeit. Auch im polnischen „O-bi, o-ba: Koniec cywilizacji“ (O-Bi, O-Ba: The End of Civilization; Polen 1985) überlebt eine Gruppe die nukleare Zerstörung – doch wie soll es weitergehen? Vordergründig ein Science-Fiction-Film über außerirdische Invasoren ist die 1953er-Verfilmung des Romans „War of the Worlds“ (Krieg der Welten) von H. G. Wells auch eine Auseinandersetzung mit der Angst vor der nuklearen Vernichtung. Die Adaption von George Orwells „1984“ (USA/UK 1956) spielt hingegen 19 Jahre nach einem Atomkrieg: „Doppeldenk“, „Neusprech“ und die allgegenwärtige Überwachung durch „Teleschirme“ bestimmen den Alltag in der Diktatur Ozeanien – doch wer würde bei Slogans wie „Unwissenheit ist Stärke“ nicht an die reale heutige Welt denken?
Auch in der Sektion Berlinale Classics finden sich dieses Jahr Kriegsbezüge, allen voran natürlich in der Tragikomödie „Avanti Popolo“ (Israel 1986), die vom Ende des Sechstagekrieges handelt und hierbei vom wenig kriegerischen Zusammentreffen zwischen einigen ägyptischen und israelischen Soldaten. Helmut Käutners Ansatz, in seinem Krimi „Schwarzer Kies“ (Bundesrepublik Deutschland, 1961) auf neonazistische und antisemitische Tendenzen in der noch jungen Bundesrepublik hinzuweisen, wurde gründlich missverstanden; hinzu kommen die vom Film thematisierten Verbrechen im Zusammenhang mit einer US-Militärbasis als wenig systemkonforme Aspekte. In Stanley Kubricks Psychogramm und Gesellschaftsstudie „Barry Lyndon“ (UK/USA 1975) hat der sonst eher selten thematisierte Siebenjährige Krieg deutliche Auswirkungen auf die Protagonisten.
In der Sektion Kulinarisches Kino findet sich noch die biographische Spurensuche „Monsieur Mayonnaise“: Der in Australien aufgewachsene Künstler Philippe Mora fand heraus, dass sein Vater in Deutschland geboren worden und unter jenem Codenamen im Zweiten Weltkrieg für die Résistance tätig war [eine Recherche zu solchen Hintergründen ist natürlich etwas erfreulicher als bei einer Täterbiographie].
Ansonsten fällt in dieser Berlinale die hohe Zahl an Künstlerbiographien auf: Der deutsche Wettbewerbsbeitrag „Beuys“ etwa, der sich mit einem der zentralen bundesdeutschen Nachkriegskünstler über bisher unerschlossene Dokumente auseinandersetzt. Ebenfalls in dieser Sektion – aber außer Konkurrenz – wird Stanley Tuccis Spielfilm „Final Portrait“ gezeigt, in dem Geoffrey Rush den Bildhauer Alberto Giacometti in dessen letzten Lebensjahren verkörpert, basierend auf James Lords Biografie „A Giacometti Portrait“. Das Leben der expressionistischen Malerin Paula Modersohn-Becker behandelt „Paula“ als Teil der LOLA-Sektion. Dort findet sich mit „Wer ist Oda Jaune?“ auch eine Annäherung an die gleichnamige zeitgenössische Künstlerin. Der Dokumentarfilm „Revolution of Sound. Tangerine Dream“ beschreibt jene deutsche Band, deren Wirken für die Entwicklung elektronischer Musik bedeutsam war; und mit „Bickels [Socialism]“ wendet sich jener kommentarlose Dokumentarfilm der Forums-Sektion dem Schaffen des Architekten Samuel Bickels und seinen Zweckbauten für israelische Kibbuzim zu. Nicht zuletzt wird Christo in der Sektion Talents über sein Schaffen sprechen: „No Longer There – The Art of Disappearance“. Man kann bei diesem energetischen Künstler nur hoffen, dass sich diese Aussage ausschließlich auf seine Arbeiten und nicht seine Person bezieht.
Auch dieses Jahr hat die Berlinale also viel zu bieten – und über den unmittelbaren Bezügen zu Krieg und Kunst hinaus natürlich zahllose Einblicke in Gesellschaften, Emotionen und Lebensrealitäten, die oft keinen Verleih für hiesige Kinos finden.
Die 67. Berlinale findet vom 9. bis 19. Februar an verschiedenen Spielorten in Berlin statt.