Wie bereits angekündigt, wurde am 29. Oktober 2010 die Ausstellung „Erinnerungen“ mit Fotografien des in der DDR aufgewachsenen Jürgen Graetz in den Räumlichkeiten der Berliner Politikberatungsfirma republik movida GmbH erfolgreich eröffnet. Das Grußwort sprach Lars Lindemann MdB (FDP) in Anwesenheit des Künstlers.
So fühlte sich der Bundestagsabgeordnete nicht nur an seine eigene Kindheit in Brandenburg erinnert, an die Fahnenappelle und Aufmärsche in Berlin, sondern auch an seine eigene Ausreise von Deutschland (Ost) nach Deutschland (West).
Jene absurde Realität ist nun seit kaum mehr als 20 Jahren Geschichte: Eine ganze Generation ist nun ohne deutsch-deutsche Trennung herangewachsen. Umso mehr macht es Sinn, daran zu erinnern; denn in den Schulen erfahren die Kinder und Jugendlichen leider wenig bis nichts hiervon.
Lindemann fuhr fort: „Viele der Bilder rezipiert man heute ganz anders als damals, als sie entstanden sind. Heute stehen wir davor und bei jedem läuft ein eigener Film dazu ab: abhängig davon, was wir erlebt haben; abhängig davon, ob wir die Originale erlebt haben. Der Blick von Jürgen Graetz ist immer detailverliebt, nie sich lustig machend.“
Der Kurator Martin Bayer verwies auf die Vielschichtigkeit der Bilder: „Man sieht die Fotografie mit den lachenden, fröhlichen Punks und fühlt im ersten Moment nur die gelöste Atmosphäre. Aber die im Kulturpark Treptow erstellte Aufnahme ist aus dem Jahr 1983, und Punker und andere alternative Lebensmodelle waren in der DDR ausgegrenzt und verschiedensten Repressalien ausgesetzt.“
Nicht zuletzt haben es ihm Graetz‘ Aufnahmen vom Sowjetischen Ehrenmal in Berlin (von denen in der Ausstellung 15 zu sehen sind) angetan: „Ein sowjetischer Soldat der Westgruppe der Truppen fegt im Februar 1993 Schnee von einer Gedenkplatte: ‚Die Heimat wird ihre Helden nicht vergessen‘ steht dort auf Russisch und Deutsch. Wieviel ist hiervon Wunsch, wieviel ironisch gebrochene Wirklichkeit? Auf dem nächsten Bild ein stramm marschierender Trupp im Paradeschritt – aus dem Nebel kommend, im Nebel vergehend. Dann eine vierköpfige, sich an den Händen fassende Familie; sie geht mit dem Rotarmisten des nächsten Fotos eine Verbindung aus Einsamkeit und Melancholie ein. Stoisch, geradezu skulpturenhaft wacht ein anderer Soldat vor dem im Nebel verschwimmenden Denkmal. Ihm gegenübergestellt ist eine trauernde Mutter. Hier erhält das Ehrenmal seine eigentliche Rolle zurück: von der offiziellen ‚Kranzabwurfstelle‘ zum persönlichen, ja intimen Erinnerungsort. Graetz vermag es, diese Augenblicke festzuhalten und uns zu berühren.“
Jürgen Graetz‘ Fotografien zeichnen sich durch einen berückenden Blick aus: er nimmt die Menschen in ihrer Situation wahr. Dabei verzichtet er auf plakative Effekte, auf vordergründiges Stilisieren oder platte Nostalgie.
„Oft sind es die vermeintlich Schwachen und die Außenseiter, denen er Gesichter gibt: die Kinder, die Alten, die Einsamen; oder die, die in der Gesellschaft schlechte Chance haben: Einzelhändler, Fabrikarbeiter, berufstätige Frauen, Sowjetsoldaten. Graetz bevorzugt eine eher vorsichtige Annäherung, keine mit dem Finger zeigende, und in keinem Fall eine denunzierende. Immer wahren die Aufgenommenen ihre Würde. Es ist die teilnehmende, tastende Subjektivität des Fotografen mit seinem feinen Humor, der leisen Ironie und seiner hohen Sensibilität, die den Betrachter berühren“, so Dr. Peter Böthig vom Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheinsberg in seinem Vorwort zum leider vergriffenen Bildband „Jürgen Graetz – Fotografien 1958-2008“.1
Die lohnenswerte Ausstellung mit 42 Fotografien ist noch bis Ende Februar 2011 in den Räumlichkeiten der republik movida GmbH nach Anmeldung zu besichtigen:
Wartist präsentiert:
Erinnerungen – Fotografien von Jürgen Graetz
republik movida GmbH
Luisenstr. 41
10117 Berlin
Tel. 030-526 825 410
Email info@republik.movida.de
- Edition Stechlin, 2008; 176 Seiten, ISBN 978-3000252228 ↩